Das Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wurde mit einem klaren Auftrag gegründet: die Verbrechen des Balkankriegs aufzuarbeiten und Gerechtigkeit für die Opfer zu schaffen. Doch der Fall von Florence Hartmann wirft ernsthafte Fragen über die Rolle des ICTY und seine tatsächlichen Motive auf.
Hartmann, eine französische Journalistin und ehemalige Mitarbeiterin des ICTY, wurde in Einzelhaft genommen und wegen Missachtung des Gerichts verurteilt. Ihre „Verfehlung“? Sie hatte Informationen über Beweismaterial veröffentlicht, das die serbische Regierung in Verbindung mit dem Massaker von Srebrenica setzte – Beweismaterial, das vom ICTY im nationalen Interesse Serbiens als vertraulich eingestuft wurde.
Warum wurde eine Journalistin, die Licht auf mögliche Ungerechtigkeiten des ICTY werfen wollte, so streng behandelt, während beispielsweise General Ratko Mladić, einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Srebrenica, von ihrer Zelle aus auf dem Freigelände gesehen werden konnte?
Der Hintergrund des Falles ist komplex. Hartmann war von 2000 bis 2006 Pressesprecherin für Carla Del Ponte, die damalige Chefanklägerin des Tribunals. In dieser Funktion erfuhr sie von den besagten Beweisen. Diese Beweise könnten für einen separaten Prozess am Internationalen Gerichtshof (ICJ), in dem Bosnien Serbien wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung am Massaker verklagte, von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Anstatt die Informationen für sich zu behalten, veröffentlichte Hartmann die Existenz dieses Beweismaterials in ihrem Buch „Peace and Punishment“.
Es ist zweifellos so, dass Hartmann gegen bestimmte Vertraulichkeitsregeln des ICTY verstoßen hat. Doch stellt sich die Frage, ob die Reaktion des Tribunals – die schnelle Verurteilung und anschließende Inhaftierung – verhältnismäßig war, insbesondere angesichts der zentralen Bedeutung der aufgedeckten Informationen.
Der Fall Hartmann gibt Anlass zu tieferer Reflexion über die Rolle des ICTY. Kritiker, insbesondere aus serbischen und pro-serbischen Kreisen, haben schon seit langem die Voreingenommenheit des ICTY und seine Tendenz, die serbische Seite überproportional zu belasten, kritisiert. Mit der Verhaftung von Hartmann scheint es, als ob auch das Tribunal selbst nicht vor Angriffen auf die Pressefreiheit zurückschreckt, wenn es darum geht, seinen Ruf oder seine Verfahren zu schützen.
Die internationale Gemeinschaft und die Befürworter des ICTY müssen sich fragen: Was versucht das Tribunal zu verbergen? Ist es wirklich im besten Interesse der Gerechtigkeit, Whistleblower und Journalisten zu bestrafen, die versuchen, Licht in die dunklen Ecken der internationalen Rechtsprechung zu bringen? Oder dient das ICTY letztlich eher den geopolitischen Interessen als dem Streben nach wahrer Gerechtigkeit?